150 Jahre Konsolidierung

Volksbank Mittelhessen: Von der Gewerbebank Gießen zum hessischen Wirtschaftsfaktor

- von Peter Hanker

Wie im Großen so im Kleinen: Mehr oder weniger jede genossenschaftliche Primärbank hat eine bewegte Konsolidierungsgeschichte, die die Verdichtung der genossenschaftlichen Bankengruppe insgesamt widerspiegelt. So auch die Volksbank Mittelhessen, die in ihrer Geschichte über 200 Fusionen bewerkstelligte. Doch Größe allein ist nicht alles für genossenschaftliche Kreditinstitute.

Im Jahr ihrer Gründung 1858 erklärten 90 Gießener Bürger ihre Mitgliedschaft bei der Gewerbebank zu Gießen. Dabei stand einzig und allein der Gedanke der Hilfe zur Selbsthilfe für die ortsansässigen Handwerker im Vordergrund. Die im Sinne eines Vorschussvereins gegründete Bank hatte ausschließlich den Auftrag der wirtschaftlichen Förderung der zunächst recht überschaubaren Zahl von Mitgliedern.

Sitz der Gewerbebank Gießen von 1881 bis 1929
Sitz der Gewerbebank Gießen von 1881 bis 1929

Erst wenige Jahre zuvor hatten Hermann Schulze-Delitzsch und Friedrich Wilhelm Raiffeisen die genossenschaftliche Idee entwickelt. Aus der Not geboren konnte sich damals mit Sicherheit keiner der Gründer auch nur ansatzweise vorstellen, welche weit reichenden Folgen ihr persönliches Engagement haben sollte. 170 Mitglieder hatte die Gewerbebank nach Abschluss ihres ersten Geschäftsjahrs. Ihre Rechtsnachfolgerin, die Volksbank Mittelhessen, zählt 150 Jahre später 180.000 Mitglieder. Damit hat sich die einst auf Gießen konzentrierte Kreditgenossenschaft zur mitgliederstärksten Volksbank in Deutschland entwickelt. Dass ein solches Wachstum nicht nur organischer Natur sein kann, versteht sich von selbst.

Befasst man sich mit der langen Geschichte der Genossenschaftsbank, so blickt man auf eine Aneinanderreihung von mehr als 210 Zusammenschlüssen und Fusionen. Die heutige Größe und wirtschaftliche Bedeutung der Volksbank Mittelhessen basiert also letztlich auch auf einem 150 Jahre andauernden Konsolidierungsprozess. Sicher, nicht jede Fusion war von direkt spürbarem wirtschaftlichem Nutzen gekrönt. Doch in der Retrospektive wird schnell klar, dass der genossenschaftliche Ansatz des Zusammenschlusses vieler Einzelner zu einem schlagkräftigen Ganzen am Ende überaus erfolgreich ist. Denn die Volksbank Mittelhessen hat sich durch die Bündelung der regionalen Kräfte zu einem bedeutenden Wirtschaftsfaktor nördlich des Rhein-Main-Gebiets entwickelt. Mit ihrer Finanzkraft fördert sie ihre Mitglieder und finanziert insbesondere den heimischen Mittelstand. Damit erfüllt sie heute im Kern die gleiche Aufgabe wie schon vor 150 Jahren - lediglich der Maßstab hat sich verschoben.

Domizil der Handels- und Gewerbebank Gießen ab 1930
Domizil der Handels- und Gewerbebank Gießen ab 1930

Eine Genossenschaftsbank für ganz Mittelhessen

Innerhalb der vergangenen zehn Jahre konnte die Vision einer mittelhessischen Genossenschaftsbank mit einigen richtungsweisenden Entscheidungen umgesetzt werden. Den Grundstein dafür legte der erste landkreisübergreifende Zusammenschluss der Volksbank Gießen und der Wetterauer Volksbank zur Volksbank Gießen-Friedberg. Hier vereinten sich zwei wirtschaftlich gesunde Genossenschaftsbanken trotz unterschiedlicher Größe auf Augenhöhe, um gemeinsam komplexere Aufgaben für die Region übernehmen zu können. Schnell konnten neue Impulse gegeben und Initiativen ins Leben gerufen werden, die noch heute die Bank und die mittelhessische Wirtschaft prägen. Dazu gehört zum Beispiel das "Mittelstands-Kolleg", das Informationsveranstaltungen, Seminare und Workshops für Unternehmer, Freiberufler, Handwerker und Entscheidungsträger in den Kommunen anbietet. Ziel der praxisorientierten Veranstaltungen ist die Unterstützung der meist unternehmerisch tätigen Gäste in Form von Know-how und gegenseitigem Austausch. Kurz nach der Fusion entstanden auch die Bürgerstiftung Mittelhessen und das Mitgliederprogramm "mehr&wert".

Im Jahr 2005 folgten vier Zusammenschlüsse mit den Volksbanken Gleiberger Land, Leihgestern und Wieseck sowie der Marburger Bank. Besonders die letztgenannte Fusion führte zwei regional stark verankerte Banken zusammen, die es unter einem Dach zu verbinden galt. Die Firmierung Volksbank Mittelhessen war geboren. Jetzt orientierte man sich erstmals auch bei der Namensgebung an dem geografischen Konstrukt Mittelhessen, welches heute in der Volksbank die Kreise Gießen, Marburg-Biedenkopf, Lahn-Dill, Wetterau und Limburg- Weilburg umfasst (der guten Ordnung halber: den Altkreis Wetzlar des Lahn-Dill-Kreises, den Altkreis Marburg des Landkreises Marburg-Biedenkopf, den Altkreis Friedberg des Wetteraukreises und den ehemaligen Oberlahnkreis des heutigen Kreises Limburg-Weilburg ebenso). Darüber hinaus unterhält die Volksbank Mittelhessen Filialen im Vogelsberg, in der ehemaligen Kreisstadt Frankenberg und in Bad Laasphe in Nordrhein-Westfalen. Vier Jahre später folgten die Fusionen mit der Volksbank Wetzlar-Weilburg sowie der Volksbank Holzheim. Die Region Mittelhessen wird nun nahezu vollständig in der Fläche und bis an ihre Grenzen von der Volksbank Mittelhessen sowie in fairer Partnerschaft mit rund einem Dutzend kleinerer Genossenschaftsbanken abgedeckt.

Kultur entscheidet über Erfolg

So wie sich kaum jemand in erster Linie als Europäer, sondern eher als Deutscher, Franzose oder Spanier bezeichnet, so benennen sich nur wenige Bürgerinnen und Bürger als "Mittelhessen". An erster Stelle sind die Menschen ihrem Geburts- und Wohnort verbunden und fühlen sich entsprechend eher als Marburger, Gießener oder Wetzlarer. Der Lokalpatriotismus ist in unserer Region wie auch in vielen anderen Gebieten Deutschlands stark ausgeprägt. Man lebt und pflegt die kleinen Unterschiede und erkennt sich bereits an Sprachnuancen, die Außenstehenden oft verschlossen bleiben. Es existieren sogar gewisse regionale Rivalitäten gerade zwischen den größeren Städten, wie man sie vom jahrhundertealten Konflikt zwischen Düsseldorf und Köln kennt. Ein Beispiel hierfür ist die Konkurrenz zwischen der Kreisstadt Friedberg und der größten Stadt im Wetteraukreis, dem Kurort Bad Nauheim. Man könnte zahlreiche weitere Differenzen und deren Gründe anführen. Wichtig wäre hier die Nennung des Wirkens der ersten protestantischen Universität in Deutschland, der Philipps-Universität Marburg, oder der ehemaligen Grenze des Königreichs Preußen, die zentral durch Mittelhessen verlief. Daher ist es umso bedeutsamer, als Arbeitgeber eine gemeinsame Identifikation aufzubauen, die solche regionalen Zwistigkeiten ausblendet.

Die Menschen der Volksbank Mittelhessen leben eine Unternehmenskultur, die genau dies schafft. In überwältigender Mehrheit sind die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter stolz auf ihr Unternehmen und ihre Aufgaben. Mehrfach wurde die Bank zum "Great Place to Work" gekürt und gehört damit zu den 100 attraktivsten Arbeitgebern Deutschlands. Für den Erfolg einer Fusion ist es von entscheidender Bedeutung, dass nicht nur die sachlichen Dimensionen wie etwa die Technik oder die Produktpalette aufeinander abgestimmt werden. Entscheidend sind die Menschen. So wurden besonders die großen Zusammenschlüsse der vergangenen Jahre regelmäßig von umfassenden Prozessen der Veränderungskommunikation begleitet, die behutsam, aber zielorientiert eine Harmonisierung der Unternehmenskultur anstrebten. Am Ende stand die Identifikation aller Führungskräfte und Mitarbeiter mit den gemeinsamen Zielen sowie ein neues, kollektives Selbstbewusstsein und der Wunsch aller, für die Region und die Mitglieder da zu sein.

Hauptsitz der Volksbank Mittelhessen seit 1998
Hauptsitz der Volksbank Mittelhessen seit 1998

Grenzen des Wachstums

Die Volksbank Mittelhessen hat sich, auch was ihre Größe Betrifft, stets an den Bedürfnissen ihrer Mitglieder ausgerichtet. Ziel war und ist es weiterhin, eine wirtschaftliche Einheit zu schaffen, die den Mittelstand nördlich des Rhein-Main-Gebiets mit einer starken Risikotragfähigkeit leistungsfähig unterstützen kann. Dazu kommen natürlich Größenvorteile vor allem in Bezug auf regulative Vorschriften. Man denke nur an Basel II und III oder die MiFID. Doch die Zusammenschlüsse erfolgten nicht zum Selbstzweck. Es ging nie um das Streben nach Wachstum um der Größe willen, sondern immer um klar definierte strategische Ziele. Mit der heutigen Größe der Volksbank Mittelhessen sind diese erreicht. So wird einer weiteren geografischen Expansion in andere Landkreise eine klare Absage erteilt. Der genossenschaftliche Charakter der Bank wird nicht auf dem Altar von Skaleneffekten oder Synergiedenken geopfert. Denn eine Genossenschaftsbank unterscheidet sich von ihren Wettbewerbern doch vor allem durch ihren regionalen Bezug und durch die dort arbeitenden Menschen. In ihren Filialen treffen die Kunden auf kompetente Ansprechpartner, die sie aus dem Sportverein kennen oder deren Nachbarn sie sind, die Mitglied der gleichen Gemeinde sind und die genauso hessisch schwätzen können wie sie selbst.

Um auch künftig erfolgreich zu sein, muss dies erhalten bleiben. Das kann nur funktionieren, wenn eine kritische Größe und definierte regionale Grenzen nicht überschritten werden. Solange aber die Mitarbeiter und die Führungskräfte Teil des örtlichen, öffentlichen Lebens bleiben und auch der Vorstand morgens beim Bäcker genauso begrüßt wird wie sein Nachbar, solange bleibt eine Volksbank das, was sie sein soll: nah am Kunden.

Erschienen am 04.01.2012

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